kmkb - Gender Pay Gap

Das wollen wir doch mal klarstellen- ein erzählerischer Essay

09/02/2022

Das wollen wir doch mal klarstellen

Ein erzählerischer Essay

Informationsveranstaltung & Dialog „Gender Pay Gap“
Mittwoch: 12.10.2021 / 14h
Veranstaltung Verein für Kulturarbeit

Seit vierzehn Tagen lag das Einschreiben meines Vermieters auf meinem Schreibtisch: Betreff: Mietrückstände.
Bevor ich mich in die Onlineveranstaltung „Gender Pay Gap“ einloggte, versuchte ich, per E-Mail, das Schreiben zu beantworten. Es gelang mir nicht. Ich hätte einen halben Roman schreiben müssen, um mich zu erklären. Schulden: circa 500 Euro.
Im Januar 2021 fiel meinem Vermieter, trotz der gesamtgesellschaftlichen Pandemielage, nichts Besseres ein, als die Miete zu erhöhen. Gesetzlich absolut wasserdicht. 112 Euro mehr ab März 2021. Wie sollte das funktionieren? Ohne Einnahmen. Im letzten halben Jahr habe ich kein einziges Bild verkauft. Keine Ausstellungen. Kein Händchen für den digitalen Kunstmarkt. Brachliegendes Netzwerk. Mein Minijob in der Gastro wurde gekündigt. Keinen Anspruch auf Kurzarbeit. Fuck, dachte ich, warum habe ausgerechnet ich ein künstlerisches Talent und sonst niemand in meiner Familie. Warum hat mich niemand gewarnt, als ich meine Mappe für die Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig fertigstellte und schließlich aufgenommen wurde? Warum konnte es kein systemrelevantes Talent sein oder ein gesellschaftlich anerkanntes wie Jura oder Medizin? Oder wenigstens: Ein Talent, das arbeitsmarktpolitisch von Belang ist? Oder wenigstens: Warum bin ich nicht als Mann geboren worden? Dann würde ich mich nicht zu einem geschlechtsneutralen Pseudonym gezwungen fühlen, hinter dem ich mein Geschlecht verstecke, ja, es geradezu verleugne. Gut fühlte sich das nicht an.

Ich vertagte die E-Mail und öffnete den Link zur Sitzung. Der Browser funktionierte nicht. Ich installierte ihn neu, was einige Zeit dauerte und verpasste die Vorstellungsrunde.

…das wollen wir doch mal klarstellen, hörte ich die Vorsitzende des Vereins für Kulturarbeit: Selbstverständlich sind auch in der Kulturbranche in Deutschland Einkommensunterschiede von Frauen und Männern sichtbar. 2020 verdienten Frauen im Wirtschaftszweig Kunst, Unterhaltung, Erholung 25.160 Euro weniger als ihre männlichen Kollegen. (Quelle: Statista). Frauen verdienen 18,00 Euro weniger als Männer. Sie erhalten etwa 21 Prozent weniger Stundenlohn. (Quelle: Destatis) diese Zahlen lösten eine mediale Empörung aus. Kritische Stimmen stellten richtig: Die Kennzahlen der Statistik seien falsch. Hier vergleiche man nur die Einkommen der Frauen in Vollzeit mit denen der Männer in Vollzeit. Frauen seien aber häufiger als Männer in Berufen und Branchen, in denen das Gehaltsniveau niedriger sei. Nach einer Studie der Job- und Karriereplattform Glassdoor liegt der Gehaltsunterschied zwischen Frauen und Männern nur bei 5,5 Prozent. Die Studie bildet Gehaltsangaben von Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, den USA und Australien ab.
Im Chat fragte jemand, ob es möglich sei, die Präsentation im Anschluss zu erhalten. Und ich fragte mich, was so interessant an diesen Zahlen ist, ob irgendjemand etwas mit ihnen anfangen wird; seit Covid werden wir mit Zahlen und Statistiken zugemüllt. Ich kritzelte vor mich hin. Eine Angewohnheit, die meine Konzentration steigert.
Es ist noch jemand hinzugetreten, sagte die Vorsitzende. Willst du dich auch kurz vorstellen? Sie schaltete mich Audio frei.
Mich in einem Videocall vorzustellen, ist eigentlich nicht mein Ding, die Kacheln und Hintergründe sind mir zu viel, ich verlier schnell die Orientierung, weiß nicht, wo hinsehen.

Aber ich bemühte mich:

„Danke, ich bin Martha“, fing ich an. „Malerin, arbeite mit geschlechtsneutralem Pseudonym.

Aktuell muss ich mir einen Broterwerbsjob suchen, zur Überbrückung, ich könnte mich als Grafikerin anbieten, habe mich in den letzten Wochen über Tutorials weitergebildet, beherrsche InDesign, Photoshop, Illustrator, kann auch ins Social-Media-Marketing, Posts herstellen, ist aber nicht das, was mir so ganz taugt. Meine Frage: Was kann ich an Preis aufrufen, als Freelancerin, aber auch mit Option Festanstellung. Das ist das eine. Wichtiger ist jedoch: wie kann ich meine Verkaufspreise als Malerin durchsetzen? Ich stelle fest, dass männliche Kollegen mit vergleichbarem Marktwert weit mehr aufrufen und es bezahlt wird. Ich werde oft runtergehandelt.“
Die Fragen kamen prompt:

  • Bist du künstlerisch gut vernetzt? Galerie?
  • Hast du künstlerische Unterbrechungen durch Kinder, durch eine schöpferische Krise? Oder ähnliches?
  • Was sind deine künstlerischen Themen?
  • Wie regelmäßig stellst du aus? Einzel oder Gruppen?
  • Bist du international aktiv?

Die Vorsitzende bat mich, diese Fragen zu notieren und mir Gedanken zu machen, so, als hätte ich das noch nie getan. Sie lud die Teilnehmenden ein, sich mir anzuschließen. Allgemeine Fragen könnten sein: Wo komme ich her? Wo stehe ich? Wo will ich hin? Was oder wer hindert mich? Und schließlich: Was brauche ich, um mich neu zu erfinden?

Jemand fragte: „Was hat das mit unserem Thema zu tun?“ Warum werden Frauen branchenübergreifend schlechter bezahlt?“
Weil sie sich seit Jahrhunderten über den Tisch ziehen lassen und viel zu emotional und harmoniebedürftig sind, fängt eine gewisse Lara den Chat an.
Es folgt in rasender Geschwindigkeit ein Kommentar dem nächsten:
Immer noch zu schlechte Netzwerke
Frauen kriegen Kinder. Ganz simple
Leute, erinnert euch, es ist gerade mal einen Monat her, da regierte über Jahrzehnte eine konservative Partei unser Land
Mit einer Frau an der Spitze! Das muss mal klargestellt werden
Könntet ihr hier mal etwas konstruktiver sein?
Die Vorsitzende entschuldigt sich, dass sie nun nicht auf alle Kommentare eingehen kann. Sie kehrt zu mir zurück.
„Martha möchtest du dich mit den Fragen beschäftigen, die ich gestellt habe?“


Seltsam, schon in der Schulzeit, wurde ich gebeten, beispielhaft für meine Mitschüler Rede und Antwort zu stehen. Also gut:
Vernetzung ausbaufähig. Ich habe bei Tim Eitel studiert. Ich hasse Rotwein und Smalltalks. Keine Galerie. Ich ordne mich der illustrativen Malerei zu. Ich kann mich dem Markt nicht anpassen. Meine künstlerischen Themen: aktuell keine, liege lahm, früher: Isolation und Masse. Bin nicht digital. Arbeite mit Öl, manchmal Kreide und Bleistiftskizzen. Hab mal in Finnland ausgestellt und Estland. Dort einen Zyklus vor vier Jahren verkauft.
Die Analyse: So schlecht steht es nicht um meine Malerei. Die Voraussetzungen stimmen. Keine Kinder. Ehrgeizig. Und produktiv.
Ob ich ein Atelier habe?
Natürlich. Sonst ginge gar nichts, wo soll ich denn in meiner kleinen Bude arbeiten? Atelierkosten sind von der Stadt gefördert mit Anbindung an Kollegen*? Natürlich auch das. Trotzdem empfinde ich Stillstand. Was bist du dir wert? Keine Ahnung, eine Frage, die ich sehr unangenehm empfinde. Wie soll ich das denn herausbekommen. Mein Wunsch, jetzt mit bald fünfundvierzig Jahren: Einen Job mit regelmäßigem Einkommen. Aber weiterhin Zeit für meine Arbeit. Einen Hilfsarbeiterjob?
Ja, auch das, vorübergehend: 25 Stunden, keine Nachtarbeit.
Es überraschte niemanden, wie sehr wir uns in der Not alle einig waren. Fünfunddreißig Mitglieder hatten sich eingeloggt. Nicht alle kamen zu Wort, aber alle zeigten über den Chat eine mehr oder weniger starke Verzweiflung. Es waren nicht nur Frauen anwesend. Die Vorsitzende bot uns einen Überblick über die derzeitige Förderlandschaft und die Soforthilfen.
Jemand sagte: „Wer denkt denn derzeit an einen Bildungs- und Kulturauftrag, wer sind wir denn in Krisenzeiten? Unsere Arbeit ist nicht relevant. Warum sollte sich jemand zum x-tausendsten Mal eine Faust Inszenierung in irgendeinem Stadttheater ansehen, in dem er/sie/es mit Maske und geimpft und/oder getestet Stunde um Stunde sitzen muss. Was für einen Beitrag zur Verbesserung unserer Lage leistet nun ein Stoff wie Faust der Allgemeinheit. Sprechen wir doch einmal knallhart, ohne Samthandschuhe über Gehälter. Gibt es denn einen Fachkräftemangel in der Kulturbranche oder ist es nicht eher so: Wir produzieren uns um Kopf und Kragen, aber der Markt ist gesättigt, was bedeutet, dass unsere Arbeit an Wert verliert. Das ist ein simples, marktwirtschaftliches Gesetz. Wie viele arbeitslose Schauspieler gibt es denn, Autoren ohne Verlag, Musiker ohne Label, Sänger mit Talent und ohne Fangemeinde? Leute, es ist Zeit, der Realität ins Auge zu sehen: Wir sind am Arsch. Zum Teil wenig organisiert und ab und an Stipendienjunkies der übelsten Sorte. Lebensuntauglich und egozentrisch bis in den Ruin.“
Wow, dachte ich, was für eine Ansage.

Ein Mangel an Selbstwertschätzung

Und weiter im Text: „Und Leute“, sagte dieser Mensch, dessen Namen ich nicht mehr weiß, das Schlimmste allerdings: „Wir werden gezwungen, umzuschulen. Das visuelle Volk unter uns wird zur Marketinghure und setzt jede Woche für irgendeine ebenfalls krisengebeutelten Firma einen völlig ferngesteuerten und sinnentleerten Post ab. Die Schreiberlinge versuchen sich am Content, wobei hier die Form den Inhalt vorgibt. Und die Musiker, oh je, oh je, finden sich in irgendeinem Tonstudio wieder, wo ein Podcast nach dem anderen produziert wird und kein Mensch mehr mit den Informationen hinterherkommt, die ihm jeden Tag vorgesetzt werden. Was für ein Stress für Konsumenten* und Produzenten*. Sind wir also noch, Frau Vorsitzende, Kulturarbeitende, meine, egal, ob Frau oder Mann? Diese Frage möchte ich gern zur Diskussion stellen.“
„Was ich nun klarstellen muss, sagte die Vorsitzende, ist nicht ein Mangel an Selbstwert, unter dem Sie, so scheint es mir, leiden, es ist der Mangel an Wertschätzung, egal, wie es um den Markt steht. Wie also ist es möglich unter dem Leid an mangelnder Wertschätzung, den eigenen Wert zu bestimmen? Was nützt es Ihnen, sich über Ihre Verbände über ihre Preisgestaltung zu informieren, wenn Sie sich selbst so wenig Wertschätzung schenken können, um Preise aufzurufen, die ihre Existenz dauerhaft sichern?“
„Wo wir wieder beim Thema wären“, sagte eine Frau mit einem pinken Headset auf dem Kopf, „Was brauchen wir, um unseren Wert zu erkennen? Also, ich meine, so ganz im Allgemeinen. Ob als Vorstandsfrau, als Direktorin eines Museums oder als Künstlerin oder Geschäftsführerin.“
„Befragt Eure Mütter“, warf ausgerechnet ein Mann in die Diskussion.
„Das haben wir doch schon hinter uns“, las ich im Chat.

Die Vorsitzende teilte mit, dass wir langsam zum Ende kommen müssen und stellte fest, dass wir wieder einmal mit mehr Fragen als Antworten diesen Call beenden. Sie schlug vor, dass wir diesen Dialog weiterführen sollten. Sie würde sich kümmern und einen neuen Termin setzen.
Wir bedankten und verabschiedeten uns.
Ich loggte mich aus. Und setzte mich, ohne Zögern, an die E-Mail an meinen Vermieter:

Sehr geehrter Herr Thomas Müller, in Anbetracht der derzeitigen Lage, ist es mir nicht möglich, die Mietrückstände auszugleichen. Ich schlage vorerst eine Ratenzahlung vor. Sollte dies für Sie nicht möglich sein, lade ich Sie gern in mein Atelier ein. Mein Zyklus „Raumung“ könnte Ihnen gefallen und passt perfekt in ihren Bürokomplex. Perfekt für Ihren Eingangsbereich hinter der Rezeption. Der Wert der Bilder beläuft sich auf 4000 Euro. Da ich Ihnen 500 Euro schulde, könnten wir den Differenzbetrag für zukünftige Mietzahlungen gegenrechnen.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.

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