kmkb - Grete Weil - Der Weg zur Grenze Foto: Dispeker

Grete Weils Roman über Alltag und Widerstand in NS-Zeiten

15/02/2023

Eine Wiederentdeckung

kmkb - Grete Weil - Der Weg zur Grenze - C. H. Beck Roman

Zum Holocaust-Gedenktag am 27.1.2023 ist eine Autorin (wieder) zu entdecken, die zu den bedeutendsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen jüdischer Herkunft gehört. Ihr Debüt ist ein bedeutungsvolles Zeitzeugnis und ein Mahnruf gegen das Vergessen.

“Es gab nur noch die eine Aufgabe, gegen das Vergessen anzuschreiben. Vergessen tötet die Toten noch einmal. Vergessen durfte nicht sein. Und so schrieb ich weiter.“ Grete Weil, Fotografin und preisgekrönte deutsch-jüdische Schriftstellerin aus Egern, Oberbayern (1906-1999).

„Der Weg zur Grenze“

Ihr Buch, entstanden im Amsterdamer Versteck der verfolgten Schriftstellerin kam nie ans Tageslicht. Durch einen Zufall wurde es gefunden. Eine wahre Entdeckung

Eine in Deutschland vergessene Autorin, deren Romane in diesem Land bisher keine große Aufmerksamkeit gefunden haben.

Nun hat Ingvild Richardsen, promovierte Literaturwissenschaftlerin, Kulturhistorikerin und Expertin für jüdische Geschichte in Bayern sie wieder ausgegraben. Sie kennt sich mit dem Leben und Werk der Grete Weil aus, wie wohl keine andere. Im Rahmen einer Forschungsarbeit hatte sie unlängst zufällig Grete Weils vor fast 80 Jahren entstandenen Debütroman „Der Weg zur Grenze“ entdeckt.

„Ich habe den Roman in der Monacensia im Literaturarchiv in München gefunden. Damals war ich mit einem anderen Projekt beschäftigt, in dem Grete Weil auch eine Rolle spielte. Und da habe ich dann eben diesen Roman gefunden, habe ihn sofort gelesen, konnte nicht mehr aufhören. Und danach war ich so erschüttert, dass ich auf der Stelle beschlossen habe, dass ich diesen Roman veröffentlichen werde.“

Mit „Der Weg zur Grenze“ ist ein von Grete Weil selbst später nicht mehr zur Veröffentlichung vorgesehener autobiographischer Roman erschienen. Er ist ihrem ersten, 1941 im KZ Mauthausen ermordeten Mann Edgar Weil gewidmet und entstand bereits im Winter 1944/45 in Amsterdam unter schwierigsten Bedingungen. Ständig von der Entdeckung durch die deutschen Besatzer bedroht, unter Todesgefahr.

Denn, Grete Weil musste 1935 mit 29 Jahren vor den Nazis fliehen. Und landete in Amsterdam.

Ohne Essen, ohne Elektrizität. In dieser Situation hat sie ihre Geschichte niedergeschrieben

„Grete Weil hat diesen Roman kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges in Amsterdam geschrieben,“ so Ingvild Richardsen, „in einem Haus, wo sie untergetaucht war, seit 1943 und auch im Widerstand war, wo sie auch eine Widerstandsgruppe gegründet hat. Und da saß sie da oben im Haus auf einer Treppe. Das war der einzige Ort, wo es hell war und wo sie ganz allein sein konnte. Ohne Essen, ohne Elektrizität. Und in dieser Situation hat sie ihre Geschichte niedergeschrieben. Ihr bisheriges Leben. Das alles fließt in diesen Roman „Der Weg zur Grenze“ ein.“

(Zitate aus Audiobeitrag aus der Sendung vom So., 25.9.2022 17:05 Uhr, SWR2 lesenswert Magazin)

Grete Weil erzählt ihre eigene fiktionalisierte Liebesgeschichte. Sie berichtet von der Machtergreifung der Nazis, von der Ermordung ihres Mannes Edgar 1941 im KZ Mauthausen, von ihrer Flucht und vom neuen Alltag im Exil.

Eine Erzählung über eine große Liebe, Tod, Angst und Flucht

Ein schmerzhaftes Buch. Es erzählt von einer großen Liebe, von Tod, Angst, Flucht und der Fähigkeit des Menschen, die Wirklichkeit auszublenden oder sie sich schön zu reden. Die von den Nazis verfolgte jüdische Autorin schrieb den Roman, auch um die Trauer um den Verlust ihres ermordeten Mannes zu verarbeiten. Im Sinne von „Trauerarbeit und Abbitte“ (I. Richardsen) stellt er auch eine Form von Selbsttherapie dar.

Auch wenn Weils eigene Erfahrungen von Ausgrenzung, Isolation und Verfolgung ständig zu spüren sind, und die Hauptfiguren den Weils ähneln, handelt es sich doch um eine fiktionalisierte Geschichte, nicht um eine Dokumentation. Eingeschlossenes Autobiografisches also mit einer allgemeingültigen Bedeutung.

Er ist außerdem eine Fluchtgeschichte und die Geschichte der Politisierung in einem gebildeten, bürgerlich und kulturell politikfernen Milieu und eine einzigartige Beschreibung der Veränderungen im Alltag in den Familien und Institutionen seit der Machtergreifung der Nazis 1933.

Die Schriftstellerin wuchs in München in einem großbürgerlichen jüdisch-liberalen Milieu auf. Das rege, das Sozialleben prägende Interesse an Kunst und Kultur gehörte hier ganz selbstverständlich dazu. Zu Weils Freundeskreis gehörten beispielsweise Erika und Klaus Mann.

Die Haupterzählung

Die Haupterzählung, gleichzeitig Rahmengeschichte, spielt 1936 und handelt von der Flucht der jungen, jüdischen Münchnerin Monika Merton, deren Mann bereits im KZ Dachau getötet worden ist. Da inzwischen auch sie von der Gestapo gesucht wird, macht sie sich, zuletzt zu Fuß und auf Skiern, auf den Weg über die Grenze nach Österreich. Durch Zufall begleitet sie ein junger Bekannter, der Lyriker Andreas von Cornides. Ihm erzählt sie ihre Geschichte: Szenen ihres Lebens in München und im aufgewühlten, rasanten und aufgeheizten Berlin Anfang der Dreißigerjahre, von ihrer Liebe zu ihrem Cousin Klaus, der Ehe, von Reisen und Krisen und der Arbeit an einer alternativen, ländlichen Schule in Bayern, bis die Machtergreifung der Nazis und der wachsende Antisemitismus allem ein Ende bereiten.

(Quelle: literaturreich.de)

Unter Anne Frank-ähnlichen Bedingungen in dem von den Nazis besetzten Holland

Ein Schlüsselroman, entstanden unter Anne Frank-ähnlichen Bedingungen in dem von den Nazis besetzten Holland. Erstaunlich, dass Grete Weil nach 12 Jahren im niederländischen Exil in das Land zurückkehrt, dessen Rassenwahn sie und ihren Mann vertrieben hatte.

Ingvild Richardsen : „Sie ist explizit deswegen zurückgekehrt, um die Deutschen mit der Nazizeit zu konfrontieren und um gegen das Vergessen anzuschreiben. Sie hat oft versucht, ihre Werke in Westdeutschland zu veröffentlichen. In den 1960er Jahren ist ihr das mit zwei Werken gelungen. Aber die sind nicht beachtet worden. 1980 hat sie dann „Meine Schwester Antigone“ in der Schweiz veröffentlicht. Und erst damit wurde sie in Deutschland bekannt. Sie war maßlos darüber enttäuscht, dass sich die Deutschen nicht mit ihrer Nazivergangenheit auseinandersetzen wollten.“

53% der Deutschen wollen sich nicht mehr mit der NS-Zeit beschäftigen

Heute ist es nicht anders. Laut einer Umfrage wollen sich 53% der Deutschen nicht mehr mit der NS-Zeit beschäftigen. Möglicherweise ein Indiz dafür, dass sich Scham, noch Generationen später am deutlichsten in der Verdrängung zeigt. Dagegen steht das, was man Erinnerungskultur nennt. „Und Erinnerung kann weitaus mehr sein als eine Reise in die Vergangenheit“, wie Ingvild Richardsen erklärt.

„Der Weg zur Grenze“ – ein bedeutendes, zum ersten Mal zugänglich gemachtes Werk der deutschen Literatur, eindrücklich und bewegend, klug und hellsichtig. (Quelle: buchundmedien.com)

Mit einem Nachwort der Herausgeberin Ingvild Richardsen, das dem Leben Grete Weils im zeit- und kulturgeschichtlichen Kontext, ihrer „Bedeutung als Schriftstellerin“ und dem Roman selbst gilt. Bereichert mit vielen Fotografien und Dokumenten.

DER WEG ZUR GRENZE

Autorin: Grete Weil
Verlag: C.H. Beck
Erscheinungsdatum: 25.8.2022
ISBN: 978-3-406-79106-2
348 Seiten, 25 Euro Auch als eBook erhältlich

DIE HERAUSGEBERIN Dr. Ingvild Richardsen

Dr. Ingvild Richardsen forscht zu Frauenbewegungen und vergessenen Autorinnen des 19. und 20. Jahrhunderts, zu jüdischem Erbe und zur NS-Zeit sowie zu modernen Kunstbewegungen wie dem Jugendstil. 

Wir empfehlen:

Ingvild Richardsen -Leidenschaftliche Herzen, feurige Seelen, wie Frauen die Welt veränderten

„Leidenschaftliche Herzen, feurige Seelen“ – Wie Frauen die Welt veränderten

(S.Fischer), von Ingvild Richardsen.

Die Entdeckung des Selbst: Ein ungeschriebenes Kapitel der Frauenbewegung.
In den 1890er Jahren entsteht in München eine Frauenbewegung, die das Fenster zur Moderne aufstößt. Neue Rollen von Frau und Mann werden ausgetestet, neue Formen der Sexualität gelebt. Im Zentrum stehen Künstlerinnen, die sich von Naturalismus und Jugendstil inspirieren lassen und wirkungsvoll an die Öffentlichkeit treten. Sie vernetzen sich deutschlandweit – auch mit progressiven Männern – und kämpfen für Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. »Es lebe die Freiheit … wir schaffen uns selber unser Recht.«
Ingvild Richardsen stellt die Protagonistinnen dieses euphorischen Aufbruchs vor und erzählt ein zentrales Kapitel deutscher Emanzipationsgeschichte.

Lust auf mehr?

Dann ist unser Newsletter das Richtige für Sie.

Melden Sie sich an und empfangen Sie zweiwöchentlich unseren Newsletter zu den Themen Kunst, Kultur, Medien und Design, sowie den kulturellen und wirtschaftlichen Aspekten der Kreativwirtschaft. Zudem informieren wir Sie über Neuigkeiten von kmkb als Netzwerk & Beratung für Künstler* und Kreative.

Ich stimmme den Datenschutzbestimmungen zu. Ihre E-Mail Adresse wird nur zum Versand unseres Newsletters und aktuellen Informationen über unsere Aktivitäten genutzt. Sie können jederzeit Ihre Zustimmung zurückziehen. Senden Sie uns eine E-Mail an info@kmkb.de oder nutzen unser Kontakt-Formular.
=