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Annie Ernauxs filmische Tagebücher – ein Plädoyer für das Format Super 8

10/10/2022

arte.tv hatte mit der Programmwahl von “Annie Ernaux’ Super 8 – Tagebücher” ein gutes Gespür

Schon am 13.09.2022 wurde der Film in der Mediathek des Senders gelistet. Und Am 06.10.2022 erhielt Anny Ernaux den Literaturnobelpreis “… für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Fesseln der persönlichen Erinnerung aufdeckt …“ – wikipedia. Der Autor hat sich die filmischen Tagebücher während eines regnerischen Samstagnachmittags angeschaut und war begeistert.

Der Film “Annie Ernauxs filmische Tagebücher” besticht durch sein Format

Kurz zum Film: Es ist, als ob der Zuschauer in einem Wohnzimmer gemeinsam mit der Autorin Ernaux sitzt. Eine Stimme aus dem OFF – Eva Matthes fulminant, mit trockener Stimme – erzählt die Geschichte einer Liebe Anfang der 70er Jahre. Man wähnt sich förmlich auf einem, von einer bunten Decke bedeckten Kunstleder-Sofa sitzen. Rolle für Rolle erfährt der Zuschauer mehr über die Lebensabschnitte einer Frau, die sich in ihrem Alltag als Hausfrau eingefunden hat und nur durch die kleinen Fluchten, wenn sie an Ihren Büchern schreibt, Erleichterung vom Schicksal erfährt.

Dabei sieht der Zuschauer nur Triviales. Ein Spaziergang in der Sonne, ein Familiensonntag bei Kaffee und Kuchen. Urlaubsbilder, Stadtbesichtigungen und immer wieder die Kinder, ihre zwei Söhne, die in die Kamera blicken. Es ist die Austauschbarkeit, die verblüfft. Jeder* kann sich in die Situationen hineinversetzen, es sind Erfahrungen die so, der* in den 70er und 80er Jahren aufgewachsen bzw. erziehend war, gemacht hatte. Und die so immer wieder noch gemacht werden. Ernaux`s begleitender Monolog, dessen reflektierende Haltung einer Selbstanalyse gleicht und von einer “Mutter” spricht, die hinter “ihrer glatten Haut eine gepeinigte Frau verbirgt”, die “insgeheim getrieben von der Notwendigkeit zu schreiben” spricht, und dabei sich selbst meint. Diese Distanz, gepaart mit einer schonungslosen Offenheit erzeugt mit den rohen Bildern der Kamera einen Sog, der einen nicht loslässt.

Als die Konsumerfahrung das Werte-System der Babyboomer auf Ihrer spirituellen Suche unterwanderte

Der Film, der den Zeitraum von 1972 bis 1981 wiedergibt, erzählt auch von verlorengegangen Idealen, aber auch von dem Wunsch, es “geschafft” zu haben. Die Einrichtung der Dienstwohnung – ihr Mann Philippe hatte 1971 die Stelle eines stellvertretenden Bürgermeisters inne -, wurde mit Möbeln ausgestattet, wie sie konservativer und verstaubter nicht sein konnten. Sie sollen als Ausweis einer Zugehörigkeit dienen: “Schließlich wandte sich die Kamera der Wohnung zu, den Einrichtungsgegenständen, die wir nach und nach bei Antiquitätenhändlern erstanden hatten, den schweren, prächtigen Tapeten, ein Rundgang durch das, was uns als Angehörige einer neuen, bürgerlichen Schicht auswies.” Die Befindlichkeiten der Protagonisten spiegeln ein Psychogramm, das Rücksichtnahme durch Rollenkonformität und Ausflüchte in Form (innerer) Reisen sucht. Dabei bleibt sie eine Suchende zwischen den Klassenzugehörigkeiten. Ihr Vater, ursprünglich Knecht, führte später mit Annies Mutter einen kleinen Kramerladen in einem kleinen Ort in der Normandie, und gegensätzlich dazu Ernaux, Lehrerin an einer Schule mit ihrem Mann, einem stellvertretenden Bürgermeister. Sich selbst der liberalen Linken zuordnend, unternahmen Ernaux mit ihrer Familie Reisen u. a. nach Chile, Korsika, Albanien, Portugal und Moskau: “Wenn wir nicht die Welt verändern konnten, konnten wir doch über sie berichten.” Wenn hier noch etwas Hoffnung durchklingt, Botschafterin einer verheißungsvollen Zukunft sein zu können, tritt, ob der herrschenden Lebenswirklichkeit bereister Länder, der zumeist kommunistisch geprägten Orte mit ihren öffentlich postulierten Parolen, Ernüchterung ein. So auch im Privaten von Annie Ernaux. Der letzte Urlaub mit ihrer Familie nach Moskau begleitete, neben einer inneren Bilderflut, die Frage “… ob der Sowjetmensch glücklich war oder nicht”.

Das Schreiben war Ihr Trost, trotzdem nimmt es keinen großen Raum im Film ein, auch wenn Sie erzählt “… In meinem Tagebuch hatte ich damals notiert, ich müsse, alles, was in meinem Leben geschieht zu einem furiosen Roman vereinen”. Berichtartig beschreibt sie, wenn sie an einem Buch arbeitet, es fertiggestellt, oder veröffentlicht werden konnte. Erst zum Ende des Films, gibt es einen Bezug. Die Veröffentlichung Ihres Buches “La femme gelée” sieht sie als den Anfang des Endes ihrer Beziehung mit Philippe. Das Suchen von Ernaux wird im Lauf des Films zunehmend spürbar und zum Ende hin greifbar, als ein Leben, das auf Selbstbestimmung, Anteilnahme und Authentizität wartet. Ein Leben, das sie nach ihrer Scheidung 1982 in vollen Zügen emanzipatorisch und schriftstellerisch begann. 

Nach Jahren, die Söhne waren erwachsen, der Mann an Krebs verstorben, wurden die Filme wieder hervorgeholt. Annie Ernaux filmische Tagebücher sollten ein, wie sie sagt, “Fragment einer Familienautobiografie werden und eine Gelegenheit, entscheidende Jahre wachzurufen, um ein wenig von dem Licht einzufangen, das die Vergangenheit beschienen hatte.” Ein, wie sie erzählend abschließt, goldenes Licht des Indien Summers, den John Dassin in der Mitte jener Jahre besungen hatte.

Der Film und sein Format

Annie Ernaux´s Film nutzt Super 8 als Medium einer Zeit, die längst vergangen ist und verhilft nicht nur dadurch zu seiner Glaubwürdigkeit.

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Um ehrlich zu sein, der Film besticht nicht durch seinen Schnitt, den Kameraeinstellungen. Die Qualität ist für einen bei einem Fernsehsender gezeigten Film äußerst schlecht und entspricht mit Sicherheit nicht den Sehgewohnheiten eines Millenials. So schlecht muss er auch sein, da es sich um das Super 8 Format handelt. Ein in den 60er bis 80er Jahren populäres Format, das für jedermann erschwinglich war – die Kameras, Filmrollen, Schneideapparaturen und Projektoren gab es für den Normalbürger für wenig Geld. Heute stehen sie für ein authentisches Zeitdokument. So ist auch der Film zu verstehen, ein Film, der durch seine Erzählerin geprägt ist. Die Erzählstimme lässt ein Universum an weiteren Bildern neben den gezeigten vor dem inneren Auge des Betrachters erscheinen. Das Identifikationspotenzial ist hoch. Wir sehen Bilder, die uns bekannt sind, Urlaube, Ausflüge, Mittagessen, Feiertage, Geburtstage, und schulische Anlässe. Stationen eines familiären Lebens.

Fazit: Annie Ernaux´s Film ist eine Inspiration sich für das Format Super 8 zu entscheiden. Die erzählerische Form einer Aneinanderreihung von Szenen und der Erzählstimme aus dem OFF funktioniert, um ein emotional dichtes Bild, einer sich verändernden Identität einer reifenden Frau, eindrucksvoll zu vermitteln.

Annie Ernaux auf Arte

Super 8 – Format und Stilmittel

Das Super 8 Format als Format für Gestaltung, Experiment und Ausdruck

Das Bild wackelt und ist körnig und meist ohne Ton, der Super 8 Film. Das zwingt den Filmmacher zu den einfachsten Stilmitteln, wie z. B. “auf den Schnitt” zu drehen. Die Lauflänge war durch die Kameragröße begrenzt, die Kartuschen und die Filmentwicklung teuer.

Ist Super 8 in unserer heutigen Zeit ein sinnvoll nutzbares Medium? Unbedingt, Ja! Hier folgt, warum Super 8 kreatives Schaffen unterstützt:

  • Die Kartuschengröße zwingt zu einer konzeptionellen Arbeit mit Medium. Einfach drauflos. Filmen ist kostspielig und mühsam. Ein Storyboard schafft Klarheit darüber, welche filmische Aussage getroffen werden soll, welche Kosten entstehen und somit auch, ob der Film überhaupt fertiggestellt werden kann.
  • Das (bei den meisten Kameras) fehlende Mikrofon unterstützt eine professionelle Herangehensweise. Der Ton muss dann über einen externen Rekorder separat aufgenommen und beim Schnitt synchron ergänzt werden. Die Klappe, wie man sie typischer Weise von den großen Spielfilmproduktionen her kennt, spielt dabei die wesentliche Rolle. Ein Klatschen mit den Händen hilft zur Not auch.
  • Das Bildrauschen und das Ruckeln der Bilder kann gezielt für die filmische Aussage genutzt werden. Ebenso, ob man einen Schwarz-Weiß-, oder ein Farbfilm einsetzt. 
  • Da es sich um alte Technologie handelt sind die Kameras erschwinglich, somit können mehrere beim Dreh gleichzeitig eingesetzt werden, um ausreichend Schnittmaterial für einen spannungsreichen Ablauf zu haben.
  • Super 8 ist mittlerweile eine etablierte Nische des filmischen Schaffens. Die Community ist aktiv und lädt zum kreativen Austausch ein. Filmekartuschen werden wieder als Negativ- oder Umkehrfilm produziert. Auch ist der Markt an Zubehör, wie Kameras, Stative, Schnitt-Apparaturen, und Projektoren umfangreich. Objektive, Kameras und Stative gibt es günstig.
  • Der Super 8 Digitalisierung steht nichts im Weg, da auch die dafür notwendigen Geräte erschwinglich sind. So funktioniert auch ein Format-Mix: Super 8 drehen und digital mit einem Schnittprogramm, wie z. B. Adobe Premiere Pro, Final Cut Pro von Apple oder, Blackmagic DaVinci Resolve, bearbeiten, öffnet gestalterische Horizonte.

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