Stereotype und Kategorisierungen – hilfreich, aber gefährlich
26/09/2024
Ein Vortrag von Chimamanda Ngozi Adichie, der bayerische Haushaltsplan der AFD und Schlussfolgerungen für die Kunst-, Kreativ- und Kulturbranche
Anmerkungen zu Chimamanda Adichies TEDx-Vortrag “The Danger of a Single Storie”.
Inhalte
- Ein Vortrag von Chimamanda Ngozi Adichie, der bayerische Haushaltsplan der AFD und Schlussfolgerungen für die Kunst-, Kreativ- und Kulturbranche
- Mädchen, wie Chimamanda Adichie eines war
- „Single Stories“ als Ergebnis von vorgegebenen Glaubenssätzen, Ideologien und engen gesellschaftlichen Narrativen.
- Der Konflikt ist angelegt
- Weiterführende Links zum Thema
- Beiträge zum Thema Demokratie & Kultur
Chimamanda Adichies Warnung über eine „Gefahr einer einzigen Geschichte“ hat nichts von ihrer Dringlichkeit verloren, seit sie in einem TED Talk 2009 in Oxford über ihre Sozialisation als nigerianische Schriftstellerin in schlichten Worten berichtete.
Dabei lässt sie die Bedeutung Ihrer Worte wirken, wissend, dass das, was sie zu erzählen hat, für ihre Zuhörerschaft die Kraft in sich trägt, alte Denkweisen zu hinterfragen, um Raum für neue Perspektiven zu schaffen. Was hat Adichies Vortrag mit dem Kulturparteiprogramm rechtspopulistischer Parteien zu tun? Am bayerischen Haushaltsplan 2024/2025 der AFD zeigt sich das enge, dogmatische, an Macht und reaktionär ausgerichtete Weltbild einer Partei, der es an Empathie und innovativem Bewusstsein fehlt. Welche Folgen das für die Kunst-, Kultur- und die deutsche Wirtschaft im Allgemeinen haben kann, soll sich an der Erfahrung Chimamanda Adichies erkennen lassen.
Adichie wuchs in einer gewöhnlichen, aber privilegierten Mittelklasse-Familie auf einem Universitätsgelände in Ost-Nigeria auf. Der Vater war ein Professor, die Mutter eine Verwaltungsangestellte. Sie begann mit vier Jahren zu lesen. Als Chimamanda Adichie im Alter von sieben Jahren zu schreiben beginnt, waren Ihre Protagonisten* weißhäutig, blauäugig, die im Schnee spielten, Äpfel aßen, viel übers Wetter sprachen und darüber, wie schön es sei, dass die Sonne wieder herauskam. Das entsprach ihrer Vorstellung von Romanen, denn es gab nur diese britischen und amerikanischen Kinderbücher, die sie als Siebenjährige lesen konnte und ihr zur Verfügung standen. Neben dem dringenden Wunsch, Ingwer-Limonade (Gingerbeer) ausprobieren zu wollen, davon war auch oft die Rede, hatte sie die feste Überzeugung, dass ein Buch von ausländischen, weißen und blauäugigen Ausländern handeln muss(!).
Welch ein Kontrast zu ihrem nigerianischen Alltag, wo es nur schwarze Kinder, statt Äpfel nur Mangos gab und man nicht übers Wetter sprach, da es immer sonnig war.
Mädchen, wie Chimamanda Adichie eines war
Erst nachdem sie die ersten nigerianischen Autoren* gelesen hatte, wurde ihr klar, dass Bücher auch von „schokoladenfarbigen Mädchen, dessen unbändige Haare sich nicht in Zöpfe formen lassen wollen“, handeln konnten.
Bücher von nigerianischen Autoren* waren, wie sie es beschrieb, Ihre Rettung. Sie öffneten ihr die Augen: „It saved me from having a single story“.
Eine weitere Geschichte Adichies handelte von Armut. In Ihrem Haushalt gab es eine Haushaltshilfe namens Fede, über den die Mutter nur von jemandem sprach, dessen Familie sehr arm sei. Die Mutter schickte ihnen Reis und Yams und ihre abgetragene Kleidung, und wenn Chimamanda nicht aufaß, mahnte sie: „Weißt Du nicht, dass Fede und seine Familie NICHTS haben?“. Beschämt fühlte sie großes Mitleid mit ihnen.
Als sie einmal einen Hausbesuch machten, zeigte Fedes Mutter einen wunderschön gemusterten, von seinem Bruder, aus getrocknetem Bast gefertigten Korb. Sie war überrascht. Es wäre ihr nicht in den Sinn gekommen, anzunehmen, dass Fede oder irgendjemand aus seiner Familie überhaupt etwas produzieren konnte. Dass sie etwas sein konnten, außer arm.
In Erinnerung daran, als sie in späteren Jahren im Alter von 19 Jahren in die USA zum Studieren ging, lernte sie eine weitere „Single Story“ kennen – die ihrer amerikanischen Zimmergenossin. Diese war, ob Adichies Sprachkenntnisse schockiert. „Wo hast Du so gut Englisch gelernt?“ Verwirrt antwortete sie mit einem Verweis auf die Amtssprache Englisch ihres Landes. Konsequenterweise war sie enttäuscht, als sie Adichie nach Ihrer „Tribal Music“ fragte, und diese eine Kassette von Mariah Carey hervorbrachte. Dazu kam, dass sie glaubte, dass Adichie nicht wusste, wie man einen Herd bedient. So sah es aus, dass Ihre Zimmergenossin ein wohlmeinendes, mütterliches, von Mitleid geprägtes Bild auf sie projizierte, noch bevor sie einander kannten.
Geschichten, wie Chimamanda Adichie sie erzählt, kennen auch wir.
Ohne eine umfangreiche und kritische Reflexion kategorisieren wir alltägliche Situationen, Begegnungen und Erfahrungen. Das hilft uns, auf schnelle Weise Informationen zu verarbeiten. Genauso schnell können wir uns unbewusst Vorurteile und Diskriminierung von unseren Mitmenschen zu eigen machen. Nur mit Selbstbewusstsein und Reflektionsvermögen lässt sich das verhindern. Und auch dadurch, dass wir anderen, unserem Gegenüber, mit Offenheit begegnen und zuhören, was es zu erzählen hat. Adichies Bericht über die Gefahr der „Single Stories“ erzählt davon, was passiert, wenn wir unseren Meinungen uneingeschränkt Glauben schenken. Wir kennen die Gefahr sogenannter Single Storys, die uns hindern, die Welt zu sehen, wie sie ist. Begrenzter Zugang zu Bildung, die Betonung von Stereotypen und opportunen Meinungen, als auch die Zuschreibung von diskriminierenden Eigenschaften gegenüber gesellschaftlichen Randgruppen – Single Stories nähren sich davon.
„Single Stories“ als Ergebnis von vorgegebenen Glaubenssätzen, Ideologien und engen gesellschaftlichen Narrativen.
Durch die Verengung der Perspektive auf nur eine von vielen möglichen Geschichten über Personen, Gruppen oder Orte entstehen Stereotype, Klischees und Vorurteile.
Populistische Politiker bedienen sich besagter Single Stories bzw. dieser Methode, um Meinungsbilder zu formen, Einfluss zu üben und den Menschen Glauben zu machen, dass die bestehenden gesellschaftlichen demokratischen Verhältnisse zu kulturellem Identitätsverlust, Überfremdung, Arbeitsplatzverlust und wirtschaftlichem Untergang führt. So will die AFD in Ihrem bayerischen Haushaltsplan 2024/2025 die Bereitstellung von Fördergeldern für die Kultur- und Kreativwirtschaft von ca. 3,5 Mio. Euro auf null Euro reduzieren. Sie will damit gewährleisten, dass „das Wirtschaftsministerium seine Ressourcen auf den Erhalt und die Stärkung der realen und maßgeblichen Wirtschaft in Bayern konzentriert, anstatt sich um die Förderung der Kreativwirtschaft zu kümmern. Zudem gibt es legitime Bedenken hinsichtlich der Förderung von woken Kulturprojekten, die möglicherweise männer-, inländer- und heimatfeindlich sind. Angesichts dieser Umstände ist es angebracht, die finanzielle Unterstützung für die Kultur- und Kreativwirtschaft einzustellen und die Mittel stattdessen für Maßnahmen zu verwenden, die einen direkten Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung und Stabilität leisten. Zudem ist die Einmischung des Staates in die Kultursphäre äußerst bedenklich. Kultur sollte sich frei von jeglichem staatlichen Einfluss entfalten können.“
Der Konflikt ist angelegt
Die Kunst- und Kulturförderung folgt in Deutschland maßgeblich föderalen Prinzipien und den Regeln des Grundgesetzes.
Dazu gehören
- die Kunstfreiheit,
- die dezentrale bzw. die subsidiäre Organisation von Kunst- und Kulturförderung.
- Die Förderung pluraler und vielfältiger Programme.
- Die Minderheiten und experimentelle Kunstformen berücksichtigt.
- Die Bereitstellung öffentlicher Gelder in Form von institutioneller Förderung, Projektförderung bzw. Stipendien und Preise.
Das sei hier erwähnt, um das Konfliktpotenzial, das in dem Programm der AFD angelegt ist, offenzulegen. Nicht nur wird die komplette Kulturförderung inhaltlich infrage gestellt, auch wirtschaftlich bedeutet es eine gesellschaftliche Sezession – für alle in der Kultur- und Kreativwirtschaft und den in den assoziierten Wirtschaftsbereichen Tätigen. Diese Form von Disruption ist ein systemischer Hebel rechter Politik, der auf die Polarisierung der Bevölkerung abzielt. Warum Polarisierung? Aus der Polarisierung resultierenden Narrative, wie GUT und BÖSE bzw. FÜR UNS und GEGEN UNS, geben den Parteien eine Existenzberechtigung und damit Macht.
Im Ergebnis wird Kulturförderung willkürlich bzw. dem ideologischen Verständnis der rechtsnationalen Partei/en untergeordnet. Kunst muss dann eine Funktion im nationalen Kontext erfüllen. So entwickelt sich, genährt sich aus dem Gefühl von Vernachlässigung, Geringschätzung und Würdeverlust, der Nationalgedanke als kompensatorisches Momentum, das im Kollektiv seinen Brennstoff findet.
Die Idee des Nationalgedankens, nationalistischer Parteien, wie sie z.B. auch in Polen und Ungarn maßgebend für die Kulturförderung wurde, ordnet den Menschen einem totalitären Prinzip unter. Was ist mit „totalitär“ gemeint? Total im Sinne von ausschließlich, z.B. bist Du dafür oder dagegen, sagst nur ja oder nein, bzw. gibt es die Entscheidung zwischen weiß oder schwarz, unten und oben.
Für die Kulturpolitik bedeutet das, dass die Kunstfreiheit, das plurale und föderale Prinzip, als auch die Förderung von Nischen und vom Mainstream abweichenden Kunstformen beseitigt werden. Kreativ sowie wirtschaftlich werden Perspektivlosigkeit, Ödnis und Ruin den Platz von Vielfalt, offenem Austausch, offenen Gestaltungsräumen und Märkten einnehmen.
Demokratie erfordert eine Beteiligung aller. Jedoch treffen nationalistische Parolen schon längere Zeit auf die offenen Ohren derer, die sich in ihrem Gefühl des sich abgehängt Fühlens bestätigt wissen wollen. Ein Zuhören findet statt, aber nur, um im Gesagten Anhaltspunkte der Selbstbestätigung zu identifizieren oder diese geschickt als Munition des Widerspruchs zu nutzen.
Gelebte Demokratie ist mühsam. Sie erfordert Offenheit, die Bereitschaft zu einem Kompromiss und Wohlwollen. Denn, Biografien und die damit verbundenen Geschichten eines jeden sind komplex.
„Es ist nicht so, dass Single Stories nicht wahr wären. Aber, sie sind unvollständig. So wird aus einer Geschichte, die einzige.“
– Chimamanda Ngozi Adichie
Weiterführende Links zum Thema
Kulturkampf der PiS-Regierung (spiegel.de)
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Polen (lpb-bw.de)
Medienpolitik und Pressefreiheit in Ungarn (wikipedia.org)
Proteste in der Slowakei – Kulturkampf auf der Straße (taz.de)